Ich frage mich schon seit Jahren, wie man angesichts der internationalen Erfahrungen mit der Gesamtschule nach wie vor für dieses Uraltmodell eintreten kann. In „Gesamtschulländern“ hat man längst erkannt, dass ein Schulwesen mit „Schulen für alle“ eine Illusion bleibt, von der sich die Wirklichkeit krass unterscheidet. In der Realität entscheidet dann nämlich die Brieftasche der Eltern, was in einem differenzierten Schulwesen die Leistungsfähigkeit und die Interessen des Kindes entscheiden sollen – sei es durch die entsprechende Wohnadresse, die einen Platz in der gewünschten Schule sichern soll, oder aber so, wie es in den traditionsreichen Gesamtschulländern Europas zur Selbstverständlichkeit wurde, nämlich in einem Schulsystem getrennter Welten.
Die in den Medien gleich nach ihrer Veröffentlichung alljährlich gerne zitierte, danach aber kaum beachtete OECD-Studie „Bildung auf einen Blick“ sollte die Augen öffnen. Ein Blick auf Europas traditionsreiche Gesamtschulstaaten Frankreich und Großbritannien zeigt nämlich deutlich, warum die Forderung nach Einführung der Gesamtschule besonders aus wirtschaftsliberalen Kreisen kommt. Es ließen sich budgetäre Einsparungen dadurch erzielen, dass Eltern, die es sich leisten können, ihre Kinder dem staatlich finanzierten Schulwesen entziehen und sie in frei finanzierte Privatschulen schicken, also Schulen, die in erster Linie vom Schulgeld leben, das die Eltern zu bezahlen haben, Schulgeld in einer für die meisten Menschen unvorstellbaren Höhe. Frei finanzierte Schulen sind in Österreich noch ein so seltenes Phänomen, dass manche gar nicht wissen, dass es sie gibt. Frei finanzierte Schulen sind nicht mit Österreichs konfessionellen Privatschulen zu verwechseln, deren Lehrer:innen vom Staat entlohnt werden, für die dieselben Rahmenbedingungen wie für öffentliche Schulen gelten und deren Schulgeld einen Bruchteil dessen beträgt, das an frei finanzierten Schulen zu bezahlen ist.
In Großbritannien ist der Anteil der Schüler:innen, die in frei finanzierten Schulen unterrichtet werden, fast doppelt so groß wie in Österreich, in Frankreich sogar mehr als dreimal so groß. (1) Dass man für Tausende Euro pro Monat etwas geboten bekommt, zeigt auch ein Vergleich der Klassengrößen. Die durchschnittliche Klassenschülerzahl ist sowohl in Großbritannien als auch in Frankreich in den frei finanzierten Privatschulen nur halb so hoch wie in öffentlichen Schulen. (2) In Summe ist der Anteil, den die Eltern zur Finanzierung des Schulwesens beitragen, in Frankreich mehr als doppelt so groß wie in Österreich, in Großbritannien sogar mehr als dreimal so groß. (3)
Dass die Gesamtschule als „Schule für alle“ propagiert wird, während man seine eigenen Kinder dann ohnehin in eine teure Privatschule schickt, will ich nicht allen Vertreter:innen dieser Idee unterstellen, obwohl es dafür in Österreich zahlreiche prominente Beispiele gäbe.
Ich fordere die Politik auf, sich ehrlich und engagiert der wichtigsten Ressource Österreichs zu widmen, der Bildung. Investiert mehr in die Schulen und schafft Bedingungen, die es uns Lehrer:innen ermöglichen, Begabungen junger Menschen bestmöglich zu fördern!
(1) Quelle: OECD, PISA 2022 Database, Table II.B1.6.16.
(2) Quelle: OECD (Hrsg.), Bildung auf einen Blick 2024 (2024), Abb. D2.3.
(3) Quelle: OECD (Hrsg.), Bildung auf einen Blick 2024 (2024), Abb. C3.3.